Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler

 

Ryan Tucker Jones: Empire of Extinction. Russians and the North Pacifics Strange Beasts of the Sea, 1741–1867. New York: Oxford University Press, 2014. 296 S., 36 Abb. = ISBN: 978-0-19-934341-6.

Von der Entdeckung bis zur Ausrottung vergingen keine dreißig Jahre. 1741 beobachtete der deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller die später nach ihm benannte Seekuh zum ersten Mal und bereits im Jahr 1768 hatten russische Jäger das letzte Exemplar der ebenso schwerfälligen wie leicht zu erbeutenden Tiere getötet. Gleichwohl sollte es noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis diese bedauerliche Tatsache in wissenschaftlichen Debatten als unumstritten anerkannt wurde. Ryan Tucker Jones stellt die wohlbekannte Geschichte vom Ende der Seekuh an den Beginn seines bemerkenswerten Buches, in dem er den Versuch unternimmt, die Geschichte russischer imperialer Expansion im Nordpazifik auf neue Art und Weise zu erzählen. Überzeugend verbindet er in seinem Narrativ Erzählstränge und Ansätze miteinander, die bislang – wenn überhaupt – eher isoliert voneinander betrachtet wurden.

Zunächst einmal ist Empire of Extinction eine faszinierende wissenschaftshistorische Untersuchung. Das Buch beschreibt die naturwissenschaftliche Aneignung des nordpazifischen Raums und macht sie in ihrem zeitgenössischen Kontext verständlich. Tucker geht es dabei nicht allein um die Diskussion des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts, sondern auch um dessen soziale und gesellschaftlichen Bedingungen. Die Erforschung der russischen Flora und Fauna wurde im 18. Jahrhundert zu einem Projekt von größter Bedeutung, schließlich konnte das Imperium auf diesem Gebiet Erfolge vor­weisen, die in ganz Europa respektiert wurden. Zugleich war ein Zuwachs an Wissen nicht nur gleichbedeutend mit gesteigertem imperialen Prestige, sondern offerierte auch neue ökonomische Möglichkeiten. Dies galt im Nordpazifik in ganz besonderem Maße, bot sich hier doch die Chance, bislang unangetastete Ressourcen zu erschließen. Die scheinbar unerschöpflichen Bestände an Pelzrobben und Seeottern versprachen immense Profite; die Felle dieser Tiere waren außerordentlich begehrt und wurden nicht ohne Grund als „weiches Gold“ bezeichnet. Selbst Naturforscher wie Steller nutzten jede Gelegenheit, um sich ihren Anteil an diesem einträglichen Geschäft zu sichern.

Doch auf den Inseln im Beringmeer zwischen Kamtschatka und Alaska sorgte die rücksichtslose Jagd auf die Meeressäuger für einen verheerenden Rückgang der Bestände, der im Falle der Seekuh schließlich im völligen Verschwinden der Spezies gipfelte. Damit veränderte sich auch das gesamte Ökosystem der Region. Diese Prozesse blieben zeitgenössischen Beobachtern nicht verborgen. Jäger und Pelzhändler zogen daraus den Schluss, dass noch größere Anstrengungen vonnöten seien, um an die begehrten Felle zu gelangen. Damit orientierten sie sich an den Erfahrungen russischer Jäger in Sibirien, denen es immer wieder gelungen war, dem scheinbaren Verschwinden von Zobeln und anderen Pelztieren mit verstärkten Bemühungen zu begegnen. Doch was in den undurchdringlichen Wäldern des Festlands eine praktikable Methode gewesen sein mochte, führte im maritimen Raum an den Rand einer Katastrophe.

Auch Naturforscher fragten nach den Gründen für die offenkundigen Veränderungen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert wiesen die meisten Kommentatoren darauf hin, dass die Tiere sich dem Druck der Menschen entziehen würden und in „andere“ Regionen geflohen seien. Damit bestätigten sie nicht nur die Erklärungen der Jäger, sondern befanden sich zudem im Einklang mit den Überzeugungen ihrer Zeit: Da es sich bei Tieren um Geschöpfe Gottes handelte, konnten sie nicht aussterben. Doch je besser Naturforscher die ökologischen Zusammenhänge verstanden, desto klarer wurde, dass sich Pelzrobben und Seeotter nicht auf dem Rückzug befanden, sondern existenziell bedroht waren. Die (mögliche) Ausrottung der Arten im Nordpazifik hatten Auswirkungen, die weit über die Region selbst hinaus reichten. Einerseits wurde hier erstmals überhaupt der Beweis erbracht, dass das zuvor Undenkbare tatsächlich möglich war. Andererseits drohte das Ansehen des Russischen Imperiums dadurch erheblichen Schaden zu nehmen, musste es doch als verantwortlich für diese scheinbar erste Vernichtung einer ganzen Art gelten. Die Einsicht, dass die Ressourcen des Nordpazifik endlich waren, veränderte den Umgang mit diesem Raum. Naturforscher unterbreiteten nun Vorschläge, wie sich die Herden schützen ließen. Und die Russisch-Amerikanische Kompanie, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Region ökonomisch kontrollierte, versuchte die Tierbestände so auszubeuten, dass die Erhaltung der Arten nicht gefährdet war. Tatsächlich konnten einige Erfolge auf diesem Gebiet verbucht werden, die jedoch nach dem Verkauf Alaskas an die USA im Jahre 1867 weitgehend zunichte gemacht wurden.

Die Durchdringung des Nordpazifiks wäre ohne die indigenen Bevölkerungen Kamtschatkas, der Aleuten und Alaskas nicht möglich gewesen. Russische Händler und Jäger, aber auch die Mitglieder wissenschaftlicher Expeditionen unterwarfen sie mit oftmals gewaltsamen Methoden und machten sie zu Instrumenten der kolonialen Umgestaltung ihrer eigenen Welt. Ryan Tucker Jones verbindet die Geschichte dieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse mit jener von der ökologischen Transformation der Region und bettet sie in imperiale Kontexte ein. Dadurch gelingt es ihm, die Wechselbeziehungen und Interdependenzen zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen zu zeigen: So bedeutete etwa der Rückgang der Seeotterpopulation eine Katastrophe für die Aleuten, die aus dem Fell dieser Tiere Kleidung und andere Gegenstände hergestellt hatten. Nun mussten sie ihren Bedarf bei russischen Händlern stillen. Gleichzeitig hatten sie als Jäger in russischen Diensten einen erheblichen Anteil an der Dezimierung der Bestände. Auch deshalb nahm ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Kritik an einer solchen „Zivilisierung“ der indigenen Bevölkerung des Nordpazifischen Raumes immer mehr zu, ohne jedoch noch substanzielle Veränderungen bewirken zu können. Nach 1867 kamen auch diese Debatten zum Erliegen.

Es ist das große Verdienst des Buches, die ökologischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse im Nordpazifik in ihrer imperialen Dimension zu beschreiben. Ryan Tucker Jones vermisst in vielerlei Hinsicht Neuland, denn er begreift das „Empire of Extinction“ stets auch als Imperium der (Neu-)Ordnung und wissenschaftlichen Systematisierung eines wenig erschlossenen kolonialen Raumes. Seine brillant geschriebene Studie wird die Debatte um den „russischen Pazifik“ auf Jahre hinaus maßgeblich prägen.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Ryan Tucker Jones: Empire of Extinction. Russians and the North Pacific's Strange Beasts of the Sea, 1741–1867. New York: Oxford University Press, 2014. 296 S., 36 Abb. = ISBN: 978-0-19-934341-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kindler_Jones_Empire of Extinction.html (Datum des Seitenbesuchs)

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